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Next-Level Wissen für den Kräutersammler: Pflanzenfamilien (Lamiaceae)

Sie sind dir sicher schon aufgefallen, die drei kryptischen Wörter, die ich immer hinter den deutschen Namen einer Pflanze in Klammern setze, z.B.: Gundermann (Glechoma hederacea, Lamiaceae). Warum mache ich das? Ich bin davon überzeugt, dass es dir hilft, ein besserer und sicherer Pflanzensammler zu werden, wenn du

  • den wissenschaftlichen Namen einer Pflanzenart kennst, also Glechoma hederacea,
  • weißt, zu welcher Familie sie gehört (Lamiaceae), und
  • dir die typischen Merkmale dieser Familie einprägst.

Ich weiß, das hört sich jetzt nach Vokabelpauken an! Aber du musst ja nicht alles auf einmal lernen – wenn du dir bei jeder neuen essbaren Wildpflanze, die du kennenlernst, den Artnamen und die Familie mit aneignest, wird dein Pflanzenwissen ganz schnell wachsen.

Es zahlt sich aus! Denn es gibt für ein und dieselbe Pflanze regional unterschiedliche umgangssprachliche Bezeichnungen: So wird der Gundermann auch als Gundelrebe, Soldatenpetersilie, Erd-Efeu und Heckenkieker bezeichnet. Nur der wissenschaftliche Name ermöglicht eine eindeutige, unmissverständliche Kommunikation, die Verwechslungen ausschließt, und einen Wissensaustausch ermöglicht, auch wenn wir den Sprachraum wechseln!

Triebspitze des Gundermanns (Glechoma hederacea, Lamiaceae)
Glechoma-hederacea
Gundermann-Blüte

Ein wissenschaftlicher Artname besteht immer aus zwei Wörtern: der Gattung, in unserem Beispiel Glechoma, und dem Art-Epithet (Epithet = Beiwort), hier also: hederacea. Man spricht von der sogenannten binären Nomenklatur. Carl von Linné, den man später als den ersten Systematiker bezeichnete, führte sie 1753 in seinem Werk Species Plantarum ein. Wissenschaftliche Namen bedienen sich am Wortschatz verschiedener Sprachen, u.a. Latein und Griechisch. [1, 2]

Das Art-Epithet unterscheidet die Art von allen anderen in derselben Gattung. Es kann ein Substantiv sein. Häufig ist es ein Adjektiv, das sich im Geschlecht nach dem Gattungsnamen richtet und entsprechend dekliniert wird. Deshalb heißt es z.B. Prunella vulgaris (Gewöhnliche Braunelle) aber Echium vulgare (Natternkopf). Maskulinum, Femininum und Neutrum des lateinischen Wortes für „gewöhnlich“ lauten: vulgaris, vulgaris, vulgare. Die Endungen –us, –a, –um geben uns ebenfalls einen Hinweis auf das zugehörige Geschlecht: Die maskuline, feminine und neutrale Form des Adjektivs „weiß“ beispielsweise lauten im Lateinischen entpsrechend albus, alba, album.

Ein Art-Epithet kann uns einiges über eine Pflanze verraten, wie

  • Herkunftsland (europaeus = aus Europa, sinensis = aus China, japonicus = aus Japan),
  • Lebensraum (sylvestris, pratensis, arvensis = im Wald, auf einer Wiese, einem Acker wachsend),
  • Gestalt (erectus = aufrecht, repens = kriechend, angustifolius = schmalblättrig),
  • Verwendung (officinalis = arzneilich, oleraceus = als Gemüsepflanze verwendet, sativus = kultiviert),
  • Blütenfarbe (luteus = gelb, purpureus = violett, niger = schwarz) oder
  • Eigenschaften (odoratus = duftend, hirsutus = behaart, annuus = einjährig im Gegensatz zu perennis = ausdauernd).

Mit diesem Wissen lässt sich die eigene Gartengestaltung vervollkommnen, indem man z.B. Pflanzen an den richtigen Standort setzt oder solche wählt, deren Wuchs, Form und Farbe harmonisch aufeinander abgestimmt sind. Um bei unserem Beispiel Gundermann, Glechoma hederacea, zu bleiben: hederacea bedeutet „wie Efeu“, dessen wissenschaftlicher Name Hedera helix lautet, und bezieht sich auf die Eigenschaft des Gundermanns sich über Ausläufer zu verbreiten, die an lange Efeu-Triebe erinnern. [1]

Glechoma-hederacea
Gundermann (Glechoma hederacea, Lamiaceae)

So weit, so gut, aber was hat es jetzt mit den Pflanzenfamilien auf sich? Die Systematik benennt nicht nur Arten und schafft damit die Grundlage, biologische Vielfalt zu erforschen. Sie fasst Arten zu systematischen Gruppen höherer Rangstufe zusammen, also Arten zu Gattungen, Gattungen zu Familien usw. Dabei versucht sie, natürliche Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Organismen abzubilden: Von Arten wird angenommen, dass die zugehörigen Individuen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Die Bezeichnung der Familie erkennst du immer an der Endung –aceae, die an den Gattungsnamen einer charakteristischen, namensgebenden Art gehängt ist. So wird aus dem Gattungsnamen Lamium (Taubnessel) Lamiaceae. Der deutsche Begriff für diese Familie ist Lippenblütler – in Anlehnung an die typische Blütenform (mehr dazu weiter unten). Auch der Gundermann gehört dazu. [2, 3]

Die charakteristischen Merkmale und Muster von Pflanzenfamilien zu erkennen, vereinfacht die Bestimmung. Frei nach Rita und Frank Lüder: Wenn du erst einmal weißt, in welcher Schublade – sprich Familie – du suchen musst, brauchst du nicht mehr den ganzen Schrank – sprich die gesamte Flora Deutschlands – zu durchstöbern [3, 4]. Um so vorzugehen, benötigst du natürlich ein Bestimmungsbuch, das nach Familien geordnet ist und nicht nach Blütenform oder -farbe. Eine Pflanze identifizieren zu wollen, indem man sie ausschließlich mit einer Zeichnung oder einem Foto vergleicht, ist ohnehin häufig unbefriedigend und stark fehlerbehaftet.

Für mich das überzeugendste Argument, sich mit Pflanzenfamilien zu beschäftigen, ist jedoch Folgendes: Wenn ich die Familie einer mir unbekannten Pflanze erkenne, kann ich in den meisten Fällen ihre Essbarkeit auf einer imaginären Skala von Nahrungsmittel zu Heilmittel zu Gift einordnen – ohne ein Bestimmungsbuch zücken zu müssen, ohne die Pflanze bis zur Art zu identifizieren. Ich sehe die weiße Blüte eines mir fremden Doldenblütlers (Apiaceae) und weiß sofort: Finger weg, da gibt es einige giftige Vertreter! Wenn mir jedoch die typischen vierzähligen Blüten der Kreuzblütler (Brassicaceae) mit ihren vier langen und zwei kurzen Staubblättern begegnen, ist klar: Abgesehen von zwei Ausnahmen, die sich schnell einprägen lassen, habe ich ein essbares Wildkraut vor mir. [5, 6]

Wiesen-Kerbel
Blütenstand einer Apiaceae (Wiesen-Kerbel, Anthriscus sylvestris)
Aubrieta-x-cultorum
Blüten einer Brassicaceae (Garten-Blaukissen, Aubrieta x cultorum)

Und wie verhält es sich mit der Familie unserer Beispiel-Pflanze? Tatsächlich empfehlen viele Autoren, sich als erstes mit den Lippenblütlern/Lamiaceae zu beschäftigen – ich schließe mich ihnen an [5, 6]. Zum einen bist du mit Sicherheit mit vielen Vertretern bereits in Berührung gekommen, zum anderen finden sich etliche Heil- sowie Gewürzpflanzen und mit ein, zwei Ausnahmen keine ungenießbaren darunter: Das Töpfchen Basilikum auf deiner Fensterbank? Der Rosmarin im Balkonkasten? Der Lavendel in deiner Beetbegrenzung? Die Zitronenmelisse in deiner Teemischung? Der Salbei im Bonbon gegen deine Halsschmerzen? Thymian, Bohnenkraut, Oregano und Majoran in deiner Gewürzsammlung? Alles Lippenblütler.

Du merkst schon: Wir nutzen viele Lamiaceae aus dem Mittelmeerraum, auch bei uns lieben sie offene, sonnige Standorte. Wir schätzen ihre Vertreter aufgrund der ätherischen Öle, die den aromatischen Geruch/Geschmack verursachen und z.B. entzündungshemmende, antibakterielle oder beruhigende Heilwirkung haben. Und so schnell kennst du schon das erste Erkennungsmerkmal dieser Pflanzenfamilie: ätherische Öle. Typisch sind natürlich auch die lippenförmigen Blüten, die der Familie ihren Namen gaben (griech. lamion = Schlund/Rachen). Die oberen beiden Blütenblätter bilden dabei die Oberlippe und die unteren drei die Unterlippe (siehe Fotos unten). [3]

Bunter Hohlzahn (Galeopsis speciosa, Lamiaceae)
Lamium-maculatum
Gefleckte Taubnessel (Lamium maculatum, Lamiaceae)
Wiesen-Salbei (Salvia pratensis, Lamiaceae)
Salvia-spec
Bestäubungsmechanismus eines Lippenblütlers (Salvia spec.): Der Rücken des Insekts wird mit Pollenstaub eingepudert.

Die drei wichtigsten Merkmale lauten jedoch wie folgt:

  • vierkantiger Stängel,
  • gegenständige Blätter, die sich im Gegensatz zu wechselständigen am Stängel direkt gegenüber sitzen,
  • vierteilige Klausenfrüchte, die sich schon erahnen lassen, wenn man die Blütenröhre aus dem Kelch entfernt (siehe Fotos unten)

Triffst du auf eine solche Kombination an Eigenschaften, kann es sich nur um einen Lippenblütler handeln – in Deutschland immerhin 25 Gattungen mit knapp 100 Arten, die du auf einen Schlag zuordnen kannst [3]!

Vierkantiger Stängel-Querschnitt und gegenständige Blätter der Gefleckten Taubnessel (Lamium maculatum)
Klausen
Vierteilige Klausenfrucht der Gefleckten Taubnessel

Die einzelnen Charakteristika kommen auch in anderen Pflanzenfamilien vor: Vierkantige Stängel finden sich bei den Rachenblütlern (Scrophulariaceae), Blutweiderichgewächsen (Lythraceae), Rötegewächsen (Rubiaceae), Brennnesselgewächsen (Urticaceae), Johanniskrautgewächsen (Hypericaceae) sowie Eisenkrautgewächsen (Verbenaceae). Außer den Rubiaceae weisen die genannten Familien ebenfalls gegenständige Blätter auf, nur die Verbenaceae besitzen zusätzlich Klausenfrüchte. Sie unterscheiden sich von den Lamiaceae aber durch die Stellung des Griffels, der bei den Lippenblütlern in der Mitte der Klausenfrüchte steht, bei den Eisenkrautgewächsen darüber. Klausen bilden sich zudem bei den Raublattgewächsen (Boraginaceae), die jedoch nie gegenständige Blätter besitzen. [3, 6]

Cynoglossum-officinale
Echte Hundszunge (Cynoglossum officinale, Boraginaceae)
Cynoglossum-officinale
Klausen der Echten Hundszunge

Für Pflanzensammler sind die Lippenblütler eine dankbare, sichere Familie: Außer den bereits genannten essbaren und heilkräftigen Arten sind z.B. interessant: Braunelle (Prunella vulgaris), Acker- und Wasserminze (Mentha arvensis bzw. Mentha aquatica), Wiesen-Salbei (Salvia pratensis), Echter Dost/Oregano (Origanum vulgare), Sand-Thymian (Thymus serpyllum) und Echter Ziest (Stachys officinalis). Nur die seltene Polei-Minze (Mentha pulegium) und das Echte Herzgespann (Leonurus cardiaca) gelten vor allem in größeren Mengen als giftig. Der Kriechende Günsel (Ajuga reptans) wird manchmal als leicht giftig bezeichnet, die meisten Quellen betrachten ihn jedoch in kleinen Mengen als essbar [3, 6–8].

Ajuga-reptans
Blütenstand des Kriechenden Günsels (Ajuga reptans, Lamiaceae)
Ajuga-reptans

Jetzt fragst du dich vielleicht, wie viele Familien du kennenlernen musst, um die meisten Pflanzen einordnen zu können, die dir begegnen? In den gemäßigten Breiten sind es etwa 30 – die häufigsten werde ich nach und nach ausführlich vorstellen. Falls du nicht so lange warten möchtest: Außer den oben angesprochenen Familien sind die wichtigsten mit essbaren Pflanzen Süßgräser (Poaceae), Schmetterlingsblütler (Fabaceae), Rosengewächse (Rosaceae) und Korbblütler (Asteraceae). Giftpflanzen finden sich häufig unter den Narzissengewächsen (Amaryllidaceae), Liliengewächsen (Liliaceae), Hahnenfußgewächsen (Ranunculaceae), Wolfsmilchgewächsen (Euphorbiaceae) und Nachtschattengewächsen (Solanaceae).

Und nun empfehle ich dir, in deinem Rasen oder in dem der Nachbarn nachzuschauen, ob dort nicht gerade Gundermann blüht! Pflück ein paar der gegenständigen, aromatischen Blättchen und überzieh sie hauchdünn mit Schokolade: So erhältst du das After Eight der Pflanzensammler und prägst dir die typischen Merkmale der Lippenblütler bestimmt ausgezeichnet ein!

Im Umgang mit essbaren Wildpflanzen gilt: Sammle nur, was du hundertprozentig bestimmen kannst und nicht unter Naturschutz steht. Probier erst eine kleine Menge, wenn du eine Wildpflanze zum ersten Mal zu dir nimmst. Recherchiere potentielle Kontraindikationen, z.B. bei Medikamenteneinnahme, Schwangerschaft oder Allergien. Für Schäden kann keine Haftung übernommen werden.

Literatur

[1] Harrison, L.: RHS Latin for Gardeners – Over 3,000 Plant Names Explained and Explored. Mitchell Beazley, London 2012.
[2] Bresinsky, A., Körner, C., Kadereit, J. W., Neuhaus, G., Sonnewald, U.: Strasburger – Lehrbuch der Botanik. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 36. Auflage 2008.
[3] Lüder, R.: Grundkurs Pflanzenbestimmung. Quelle & Meyer Verlag, Wiebelsheim 2013.
[4] Lüder, R., Lüder, F.: Doldenblütler von Pastinakengemüse bis Schierlingsbecher: Essbare Doldengewächse und ihre Verwechslungsmöglichkeiten. Kreativpinsel Verlag, Neustadt 2019.
[5] Elpel, T. J.: Botany in a Day APG – The Patterns Method of Plant Identification. HOPS Press, Pony 2018.
[6] Rensten, J.: The Edible City – A Year Of Wild Food. Boxtree, London 2016.
[7] Beiser, R.: Unsere essbaren Wildpflanzen. Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2014.
[8] Fleischhauer, S. G., Guthmann, J., Spiegelberger, R.: Enzyklopädie essbare Wildpflanzen. AT Verlag, Aarau und München, 2016.