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Warum essbare Wildpflanzen sammeln?

„Wir haben ihn gefunden!“, rufe ich meinem Mann zu. In einer kleinen Senke eines Auwalds entdecken wir die ersten hellgrünen, spitz zulaufenden Bärlauch-Blätter. Endlich. Seit zwei Wochen sind wir auf der Suche, sind Hinweisen auf mundraub.org gefolgt, haben Bekannte gefragt. Wir waren uns nicht ganz sicher: Vielleicht ist es noch zu früh? Aber der Winter ist außergewöhnlich mild, den ersten Märzenbechern, Winterlingen und Leberblümchen begegnen wir schon. Die Sonne scheint aus einem strahlend blauen Himmel herab, die Vögel zwitschern über uns.

Es geht uns gar nicht so sehr darum, unbedingt Bärlauch haben zu wollen. Sammeln zu gehen, einen neuen Standort zu erkunden – das macht einfach Spaß! An ein solches kleines Abenteuer denkt man gerne zurück. Für mich ist das sicher die größte Motivation essbare Wildpflanzen zu pflücken. Es ist ein Naturerlebnis, die Freude daran, sich an der frischen Luft zu bewegen, die Sonne und den Wind auf der Haut zu spüren, zu entdecken, was jetzt schon wächst und blüht: Erholung pur. Eigentlich braucht es dafür keinen Nachweis. Aber japanische Wissenschaftler haben belegt: Waldbaden, Shinrin-yoku, stärkt das Immunsystem und senkt das Stresslevel [1].

Sammeln

Das erste große Bärlauch-Blatt, das ich finde, esse ich gleich vor Ort, denn Wildpflanzen sind unser heimisches Superfood! Sie strotzen vor Vitaminen, Spurenelementen und sekundären Pflanzenstoffen wie Chlorophyll, Carotinoiden, Flavonoiden, Phytohormonen, Bitterstoffen und ätherischen Ölen. Die Konzentration dieser Inhaltsstoffe ist in Kulturpflanzen viel niedriger [2–6].

Obst und Gemüse im Supermarkt sollen möglichst groß und schön sein, lange knackig bleiben, den Transport ohne Dellen überstehen. Auf dem Weg zu diesen Züchtungszielen blieb nicht nur der Geschmack auf der Strecke. Möglichst mild sollte er ausfallen, dabei sind gerade Bitterstoffe so wichtig für die Verdauung! Auch andere Inhaltsstoffe gingen verloren: Giersch beispielsweise hat 11-mal mehr Eiweiß zu bieten als Kopfsalat, Brennnessel hat einen 25-mal so hohen Vitamin C Gehalt. Im Schnitt enthalten wild wachsende Pflanzen 4-mal mehr Vitamin C, Eiweiß und Eisen als Kulturpflanzen [3, 5].

Wildkräuter werden weder angebaut noch gepflegt. Gerade deshalb besitzen sie so viele sekundäre Pflanzenstoffe, die z.B. dem Fraßschutz dienen. Sie werden nicht gespritzt und nicht gedüngt, enthalten weder Gentechnik noch chemische Zusätze. Es sind hoch qualitative, naturbelassene Lebensmittel. Viele Wildpflanzen sind zugleich Heilpflanzen, die Gesundheit fördernde, antioxidative, entzündungshemmende und antibakterielle Wirkstoffe enthalten. Und sie haben keine Weltreise hinter sich. Kurzum: Mit essbaren Wildpflanzen lässt sich nicht nur unsere tägliche Nahrung aufwerten, sondern sogar noch etwas für den Klimaschutz tun.

Ausbeute
Brennnessel (Urtica dioica, Urticaceae)

Essbare Wildpflanzen tun nicht nur gut, sie schmecken auch gut: Wir freuen wir uns schon auf das erste Bärlauch-Pesto der Saison! Die Natur hält eine Fülle an Geschmacksnuancen und exklusiven Zutaten bereit, die es nirgends zu kaufen gibt und nur darauf warten, entdeckt zu werden. Auch wenn Holundersirup inzwischen den Weg auf die Supermarktregale gefunden hat – hast du schon einmal Holunderessig probiert? Wildpflanzen zu sammeln, verschafft ein Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit, gibt uns die Möglichkeit eigene Zutaten zu entwickeln, die einerseits der faszinierende Hauch des Unbekannten umweht, die andererseits den wahren Geschmack einer Region widerspiegeln.

Holunder
Holunder-Blüten (Sambucus nigra, Adoxaceae)

Es ist ein Geschmack, den wir vergessen haben: Kräuter, Pilze, Wurzeln und Beeren waren über die gesamte Menschheitsgeschichte Grundlage unserer Heil- und Nahrungsmittel. Bis ins letzte Jahrhundert war das Sammeln und Verwenden von Wildpflanzen in Europa verbreitet. Als Notnahrung aus Kriegszeiten haftete ihnen später ein Armuts-Image an, mit dem man spätestens in den 1950er Jahren nichts mehr zu tun haben wollte. Inzwischen ist dieses Wissen weitgehend aus unserem Alltag verschwunden. [3, 7]

Brombeere
Brombeere (Rubus spec., Rosaceae) und Waldrebe (Clematis vitalba, Ranunculaceae)

Von den etwa 350 000 bekannten Pflanzenarten kultivierten Menschen ca. 6000 als Nahrung. Weniger als 200 davon tragen heute weltweit signifikant zur Erzeugung von Nahrungsmitteln bei. Nur neun Arten – hauptsächlich Weizen, Reis, Mais und Kartoffeln – stellen 66% der Ernteerzeugnisse. Indigene Völker hingegen nutzen bis heute hunderte verschiedene Pflanzen, um sich zu ernähren und als Medizin. Eine möglichst große Vielfalt an Wild- und Nutzpflanzen – sei es im Garten, im Wald, in der Stadtnatur oder auf dem Acker – sorgt für widerstandsfähige Ökosysteme, gesunde Böden, Lebensraum für Bestäuber und sichert letztlich die Versorgung mit Nahrungsmitteln. [8]

Kleines Wiesenvögelchen auf Wiesen-Labkraut (Galium mollugo, Rubiaceae)

Ich finde, wir sollten essbaren Wildpflanzen wieder Raum geben in unseren Landschaften, Gärten und Küchen, uns wieder aneignen, wie man sie sammelt und verarbeitet – nicht nur als Vorsorge für Zeiten, in denen Nahrungs- und Heilmittel knapp sind. Schließlich sind sie reichlich und kostenlos vor unserer Haustür zu finden. Was motiviert dich, wild wachsende Pflanzen zu ernten?

Während du über diese Frage nachdenkst, entschuldige mich bitte, es gibt gleich Spaghetti mit Bärlauch-Pesto!

Baerlauch-Feld
Bärlauch (Allium ursinum, Amaryllidaceae)

Fotos: Reinhard Hecht

Im Umgang mit essbaren Wildpflanzen gilt: Sammle nur, was du hundertprozentig bestimmen kannst und nicht unter Naturschutz steht. Probier erst eine kleine Menge, wenn du eine Wildpflanze zum ersten Mal zu dir nimmst. Recherchiere potentielle Kontraindikationen, z.B. bei Medikamenteneinnahme, Schwangerschaft oder Allergien. Für Schäden kann keine Haftung übernommen werden.

Literatur

[1] Tsunetsugu, Y., Park, B.-J., Miyazaki, Y.: Trends in research related to “Shinrin-yoku” (taking in the forest atmosphere or forest bathing) in Japan. Environ Health Prev Med 2010; 15: 27–37. DOI https://doi.org/10.1007/s12199-009-0091-z
[2] Hansch, S., Schwarzer, E.: Der Giersch muss weg! 28 Unkräuter bekämpfen oder einfach aufessen. Eugen Ulmer, Stuttgart 2019.
[3] Beiser, R.: Unsere essbaren Wildpflanzen. Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2014.
[4] Fleischhauer, S. G., Guthmann, J., Spiegelberger, R.: Enzyklopädie essbare Wildpflanzen. AT Verlag, Aarau und München, 2016.
[5] Storl, W.-D.: Die „Unkräuter“ in meinem Garten. Gräfe und Unzer Verlag, München 2018.
[6] Strauß, M.: Die 12 wichtigsten essbaren Wildpflanzen: bestimmen, sammeln, zubereiten. Walter Hädecke Verlag, Weil der Stadt 2010.
[7] Bissegger, M.: Meine wilde Pflanzenküche: bestimmen, sammeln und kochen von Wildpflanzen. AT Verlag, Aarau und München 2017
[8] Food and Agriculture Organization of the United Nations: The State of the World’s Biodiversity for Food and Agriculture, unter: http://www.fao.org/state-of-biodiversity-for-food-agriculture/en (abgerufen am 18.02.2020).

Dieser Beitrag hat 5 Kommentare

  1. Hans Lohnert

    Ich habe in Meinem Garten auch schon Bärlauchblätter gefinden. Leider sind sie jetzt wieder zugeschneit

    1. Julia Hecht

      Praktisch, wenn man ihn im Garten hat!

  2. Monika L.

    Selbst in Tirol sind die ersten Spitzen der Bärlauchblätter schon zu finden 🙂 Dieser Winter ist wirklich mild!

    1. Julia Hecht

      Erschreckend mild: An sonnigen Stellen blüht schon fast der Wiesen-Kerbel bei uns!

  3. hans Lohnert

    Hans L
    Bei uns gibt es jetzt zu jeder Mahlzeit Bärlauch im Salat

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